Talisco - "Run" - Das neue Album
Vielleicht liegt es ja an der mascaret, der Springflut. Diesem einmaligen Naturschauspiel, das in Bordeaux die Garonne immer wieder vor der Kraft des Atlantischen Ozeans zurückweichen lässt.

Der Wasserpegel der Garonne hebt sich bei Flut um einen Meter, die Oberfläche sprudelt, es entstehen Strudel und Wellen, die im gesamten Stadtgebiet zu sehen sind. Ein besonderer Vorgang, der im krassen Widerspruch zur anmutigen Pracht der Metropole im französischen Südwesten steht. Zu den vielen Sonnenstunden, den Prachtbauten, den satten Reben an den umliegenden Hängen.
Diesen Gegensätzen aus Ruhe und Unruhe, aus Sicherheit und Vergänglichkeit, aus Sehnsucht und Beständigkeit verdankt das Talisco-Debüt „Run“ seinen besonderen Reiz. Es verbindet hypnotische Elektrohymnen und die Weite der Americana zu einer hypnotischen
Traummusik, die gewaltige Räume aufmacht. Eine Musik, die nie so richtig greifbar oder einzuordnen ist – und gerade diesem Umstand ihre Einmaligkeit verdankt.
Kein Wunder: Orte, Namen und Jahreszahlen spielen keine große Rolle im
Koordinatensystem von Talisco. Geboren in Bordeaux, hat er eigentlich immer schon irgendwie Musik gemacht. Seit der Kindheit spielte er die Platten von Beck und den Beastie Boys, bis ihre Musik in seine DNA überging. Heute kann er sich jedenfalls nicht mehr so richtig daran erinnern, wann er tatsächlich angefangen hat, ein Instrument zu lernen.
„So lange ich denken kann, habe ich an Musik gearbeitet und mich mit der Gitarre beschäftigt“, sagt Talisco. „Meinen ersten Song habe ich mit 13 geschrieben, meine Eltern waren da ein wichtiger Einfluss.“
Schon damals war da aber auch diese Sehnsucht: Ein Jahr lebte Talisco in Montreal, eines in Spanien, vor neun Jahren verschlug es ihn schließlich nach Paris. Dort fühlt er sich heute zu Hause. Und in seinem Pariser Heimstudio hat er nun auch „Run“ aufgenommen, was man
dieser Musik unbedingt anhört. Denn was die elf Songs auf Taliscos erstem Album vor allem eint, ist ein gewaltiges Sehnsuchtsmoment, ein großer Sinn für Romantik.
Ob gewollt oder ungewollt: Paris durchdringt diese Musik in jeder Sekunde.
„Im Prinzip kann ich überall auf der Welt schreiben“, sagt nun allerdings Talisco. „Das einzige, was ich brauche sind meine Imagination, meine Gefühle, meine Träume.“ Eine freie musikalische Form zu finden, sich keinerlei Beschränkungen aufzuerlegen – das sei ihm bei der Produktion von „Run“ am wichtigsten gewesen. Es geht ihm um Eins-zu-eins-
Kommunikation. Eine gewisse Direktheit bei der Vermittlung von Gefühlen, wobei zu viel technisches Verständnis und Handwerk eher hinderlich seien: „Ich bin kein guter Musiker, sondern ich überlege mir eine Melodie und dann spiele ich damit ein bisschen rum. Was ich mache, ist keine Musik für Musiker, sondern emotionale Musik. Jeder kann so was machen.“
Ein dramatisches Understatement! Zwar bietet „Run“ tatsächlich keinen Stoff für Workshops in Gitarrenfachmagazinen. Aber der Multi-instrumentalist Talisco ist ein genialer Arrangeur, der mit viel Gefühl und feinem Sinn für Texturen in endloser Fleißarbeit Schicht um Schicht
aufeinanderlegt. Daraus ergibt sich eine kinematographische Breite, die Taliscos Musik zwischen der flirrenden Sehnsucht eines Chris Isaac („Sorrow“) und der geheimnisvoll-beklemmenden Traumwelt eines David Lynch-Films („Follow Me“) changieren lässt.
Allerdings beschränkt sich das filmische Element bei Talisco vor allem auf die musikalische Seite: „Die Leute vergleichen meine Musik mit Filmen, aber im Prinzip trifft das die Wahrheit nicht. Es geht in diesen Songs nicht um mich oder darum, irgendwelche Geschichten zu erzählen. Sondern ich übersetze meine Gefühle in Worte. Es geht um Abenteuer, Liebe, Freiheit.“
Dazu passend, tragen die Songs auf „Run“ knappe Namen: „Glory“, „Reborn“, „Everyone“, „Lovely“. Titel, die Taliscos Imagination entstammen – und gerade deshalb maximalen Raum für die Imagination des Hörers lassen. Ganz nach dem Motto der Kernzeile des Album-Openers „Your Wish“: „There is no fixed rules on the way we see life.“ Auch dieser Song folgt natürlich keinen strengen Regeln, sondern changiert von einer Indie-Electro-Hymne im Stile von Phoenix zu sparsamem Folk – und wieder zurück. Insofern passt Talisco natürlich bestens zum Ansatz des legendären und soeben wieder gegründeten Labels Virgin, dessen erste Veröffentlichung „Run“ ist. Bereits in der Vergangenheit war etwa der Dream-Pop der französischen Grenzgänger von Air bei Virgin erschienen, mit denen Talisco wiederum befreundet ist.
Die einzig denkbare Sprache für seine Imaginationsmusik ist für Talisco Englisch: „Ich schreibe in anderen Zusammenhängen auch französische und spanische Texte“, sagt er, „aber für diese Musik hat nur das Englische die nötige Direktheit. Zudem ist Englisch nun einmal die internationale Pop-Sprache.“ Tatsächlich wird das Sehnsuchtsmoment seiner Musik durch Taliscos deutlichen französischen Akzent und seine flirrende, getragene Stimme sogar noch verstärkt. Auch wenn ihm das Schreiben der Texte in der fremden Sprache nicht immer leicht fällt: Tagelang sitzt Talisco in seinem Pariser Studio und feilt an den fein ausziselierten Worten. Zwei Monate hat er von früh bis spät an „Run“ gearbeitet, im Allgemeinen zwölf Stunden und länger am Tag. Talisco ist also ein Maniac – mit einer Einschränkung: „Ich hasse Nachtarbeit“, sagt er lachend. „Generell bin ich überhaupt kein Rock’n’Roll-Typ, sondern mein Arbeitstag beginnt morgens um neun.“
Diese Sehnsucht nach Routinen, das einigermaßen disziplinierte Leben und der Arbeitsethos stehen nun abermals im krassen Gegensatz zum gehetzten Grundausdruck seiner ewig flackernden Augen. Es sind Augen, die das Bild eines Getriebenen zeichnen. Talisco ist ein Instinktmusiker, der mit einer wahnsinnigen Ernsthaftigkeit die Vision von seiner Musik vorantreibt. Erfüllt hat sich diese Vision mit „Run“, einem Meisterwerk des modernen Dream-Pop.