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Doppelalbum: „Damnation“ und „Salvation“

Lord Of The Lost-Sänger Chris Harms im Interview zum neuen Album „JUDAS“

Chris Harms
Chris Harms © VDPictures / Jan Season

Chris Harms: „'JUDAS' ist weder ein religiöses noch ein antireligiöses Album"

Von Mirjam Wilhelm

Am 2. Juli erscheint mit „JUDAS“* das siebte Studioalbum von Lord Of The Lost. Thema des Albums ist der Apostel Judas Iskariot, der als Verräter Jesu bekannt wurde. Es verwischt die Grenzen zwischen Gut und Böse und setzt den biblischen Verrat in insgesamt 24 Songs musikalisch um. Wie die Band auf die Idee kam, Judas Iskariot ein ganzes Album zu widmen und was Lady Gaga damit zu tun hat, verrät Sänger Chris Harms im Interview.

Das Album „JUDAS“ thematisiert die Geschichte des Apostels Judas Iskariot, auch bekannt als „Der Verräter“. Wie habt ihr seine Geschichte auf dem Album interpretiert, was sind eure Gedanken zu ihm?

Chris Harms: Genau genommen war unser Initialversuch gar nicht, seine Geschichte zu interpretieren, weil wir es weniger historisch sehen, sondern eher mythologisch. Aber darum geht es tatsächlich nicht. Was wir so interessant fanden, war die Vielseitigkeit, wie man den Charakter Judas Iskariot interpretieren kann. Wenn man an Judas denkt, kommt als erstes eine negative Assoziation. Man denkt an „Verräter“. „Du Judas“ gilt auch als Beleidigung. Wenn man aber weiter denkt und das alles für bare Münze nimmt, dann sieht man, dass dieser sogenannte „heilvolle Verrat“ durch Judas erst ausgelöst wurde. Das heißt, ohne Judas keine Kreuzigung, kein Sterben am Kreuz für unsere Sünden, selbst das Symbol hätten wir nicht. Dann haben wir darüber nachgedacht, was das eigentlich für uns, für die Gesellschaft, bedeutet. Und wir kamen darauf, Judas ist eigentlich das Sinnbild des Sündenbocks. Das was Batman für Gotham teilweise sein muss, ist gewissermaßen Judas für die biblische Geschichte. Wenn man sich damit auseinandersetzt, kommt man auf eine Grauzone zwischen Judas, der Verräter und Judas der Erlöser / Martyrer, die auf einmal alles offen lässt. Und wir können uns darin alle spiegeln in dieser Menschlichkeit. Das macht es so interessant. Das heißt, „JUDAS“ ist weder ein religiöses noch ein antireligiöses Album, es ist weder kirchenkritisch oder pro-kirchlich. Es ging uns eher um die Faszination an diesem Charakter.

Wie seid ihr überhaupt darauf gekommen, ein Album über Judas zu machen?

Chris Harms: Diese Thematik wurde durch zwei Sachen angestoßen. Einmal durch das zweite Album von Lady Gaga, darauf ist ein Song, der heißt „Judas“. Da habe ich erstmal nur die Faszination an diesem Wort entdeckt. Ich finde, es ist ein unheimlich starkes Wort, es klingt sehr bildgewaltig. Jahre später bin ich dann über das „Judas-Evangelium“ gestolpert, eine apokryphe Schrift, die von der katholischen Kirche als nicht veritabel angesehen wurde und nicht im biblischen Kanon aufgenommen wurde. Sie zeigt nochmal eine andere Sicht aus Gesprächen zwischen Jesus Christus und Judas Iskariot. Das waren die beiden Initialzündungen, die dazu führten, dass ich anfing über diesen Charakter und dessen Vielseitigkeit nachzudenken. Ich habe das den Jungs in der Band vorgestellt. Alle fanden das mega interessant und haben auch angefangen zu recherchieren.

Beschäftigst du dich viel mit biblischen Themen? Bist du religiös?

Chris Harms: Als Kind bin ich religiös aufgewachsen, nicht streng, aber es gab den lieben Gott, das war normal. In meiner Jugend habe ich dann natürlich eigenständig darüber nachgedacht, angefangen zu zweifeln und mich zu einem Agnostiker entwickelt. Das heißt, ich sage nicht, es gibt keinen Gott, sondern ich sage, es kann sein – kann aber auch nicht sein. Aber ich habe das Thema eben mit in die Wiege gelegt bekommen und habe mich damit viel beschäftigt, auch kritisch, gerade als Jugendlicher.

Auf dem vorherigen Album „Thornstar“, auf dem auch der Song „Loreley“ zu hören ist, geht es um die Mythologie der Pangaen. Beschäftigst du dich viel mit unterschiedlichen Mythologien?

Chris Harms: Ja, ich glaube, ich habe mich über die Jahre hinweg mit ziemlich allem beschäftigt, was man zu Mythologien findet, weil ich es einfach mega interessant finde. Ich muss mir oft anhören, warum ich als Agnostiker das so spannend finde. Aber dazu kann ich nur sagen, Mythologien und Religionen haben für mich die gleiche Faszination wie „Star Wars“ oder „Herr der Ringe“. Ob es nun Hinduismus ist oder nordische Mythologie – die Art und Weise, wie Menschen versuchen, Übersinnliches zu erklären und zu symbolisieren, allegorisch in Figuren darzustellen, finde ich einfach total interessant. Und auch die Wissenschaft, die auch eine Weltreligion ist sozusagen, auch damit beschäftige ich mich und setze dann vieles musikalisch um.

Lord Of The Lost (v. li): Klaas Helmecke, Niklas Kahl, Chris Harms, Gared Dirge, Pi Stoffers (π)
Lord Of The Lost (v. li): Klaas Helmecke, Niklas Kahl, Chris Harms, Gared Dirge, Pi Stoffers (π) © VDPictures / Jan Season

Es gibt ein Leitmotiv, das sich durch das Album „JUDAS“ zieht. Hattet ihr zuerst die Musik im Kopf und habt dann die Songs daraus kreiert? Oder waren erst die Lyrics da, und dann kam die Musik?

Chris Harms: Das ist unterschiedlich. Vor dem eigentlichen Songwriting gab es schon Fragmente und Textschnipsel, über die wir in den Recherchen gestolpert sind. Es gab aber keine fertigen Songtexte, die entstanden dann mit dem Songwriting oder teilweise erst danach. Zuerst kamen zum Teil nur phonetische Fragmente drauf. Ein guter Song schreibt sich manchmal in der Basis in einer halben Stunde. Der Rest liegt dann im Detail, dann kann man daran arbeiten, dass jede Silbe phonetisch passt, aber das kommt hinterher.

Wie arbeitet ihr in der Band im Songwriting zusammen? Entstehen die Songs gemeinsam?

Chris Harms: Bei „JUDAS“ haben wir es so gemacht, dass wir fünf Bandmitglieder uns gemeinsam mit unserer kompletten Live- und Studio-Crew und ein paar Musikern von anderen Bands zusammengetan haben. Insgesamt waren wir 13 Leute, und wir haben sieben Tage am Stück in kleinen Gruppen Songs geschrieben. Täglich haben die Gruppen gewechselt, und so haben wir Ideen gesammelt. Wie so ein junges Start-up, das brainstormt. Und so kamen die sehr homogenen 24 Songs heraus.

Wie würdest du die Bandgeschichte von Lord Of The Lost vom ersten Album „Fears“ (2010) an bis heute zu „JUDAS“ beschreiben? Inwieweit habt ihr euch künstlerisch und menschlich weiterentwickelt?

Chris Harms: Grundsätzlich haben wir es geschafft, einem Credo treu zu bleiben: Wir erlauben uns, dass wir uns verändern. Nicht einfach nur, weil das erste Album gut funktioniert hat, dann dabei zu bleiben. Das Wichtigste für uns ist, dass wir unsere größten Fans sein dürfen. Das meine ich gar nicht arrogant, das heißt nur, dass wir auch hundertprozentig glücklich sein müssen, mit der Musik, die wir machen. Für uns muss sie das Optimum sein. Wir haben auch das Glück, ein Label zu haben, das uns alle künstlerischen Freiheiten gewährt. Und menschlich – ich glaube, das kann man schwer sagen. Ich bin jetzt natürlich ganz woanders als damals, als ich die Band gestartet habe. Da war ich Ende 20 und wusste nicht so richtig, wohin. Jetzt bin ich 41 und Familienvater, und die Musik ist nicht nur mein Hobby, sondern auch mein Beruf. Ich sehe jetzt sehr viele Sachen reifer, glaube ich. Das zu beurteilen, überlasse ich aber lieber anderen.

Ihr seid auch schon mit klassischem Orchester aufgetreten, zum Beispiel bei dem Festival „Gothic Meets Klassik“. Mit den „Swan Songs“-Alben habt ihr bereits drei Akustikwerke veröffentlicht. Wie kam es dazu, wie hat sich das entwickelt?

Chris Harms: Ich habe Cello gelernt, komme also aus der Klassik. Das „Gothic Meets Klassik“-Format wurde uns angeboten, und wir hatten dann jemanden, der unsere Arrangements fürs Orchester geschrieben hat. Da haben wir Blut geleckt und gedacht, das können wir auch selber. Das haben wir dann in einem kleineren Rahmen gemacht, im Ensemble. Zum Großteil sind wir ja klassisch ausgebildete Musiker. Die „Swan Songs“ sind für uns neben den Rockalben eher ein bandinternes Nebenprojekt, unabhängig von den Rock-Alben.

Du selbst hast schon früh mit Musik angefangen und als Kind bereits Cello gelernt. Wie bist du zur Musik gekommen? Hat sie in eurer Familie eine große Rolle gespielt?

Chris Harms: Ich komme nicht aus einer professionellen Musikerfamilie. Meine Eltern spielen zwar beide Akustik-Gitarre, sie sind die Generation, die in den 60er Jahren mit Gitarre und Schlaghosen herumgelaufen ist. Meine Schwester, die sechs Jahre älter ist als ich, hat als Kind angefangen Geige und Klavier zu lernen. So war Musik immer um mich herum. Und kurz vor meinem dritten Geburtstag saß ich bei einem Weihnachtskonzert, es war ein Streichquartett, auf dem Schoß meiner Mutter direkt vor dem Cellisten. Ich kann mich daran zwar nicht mehr erinnern, meine Mutter aber schon. Nach diesem Erlebnis habe ich ihr immer klar gemacht, dass ich dieses „Spielzeug“ haben möchte. Für mich war das ja ein Spielzeug. Ich habe so lange genervt, bis ich dann mit fünf endlich anfangen durfte, Cello zu spielen.

War für dich schon immer klar, dass du Musiker werden willst? Oder gab es noch andere Berufswünsche?

Chris Harms: Die Alternativen wären Zahnarzt oder Chirurg gewesen. Frag mich nicht warum, aber Chirurgie und Zahnmedizin haben mich immer fasziniert. Ich fand es schon als Kind beim Zahnarzt mega interessant! Aber dann hat es sich doch anders entwickelt, ich hatte Bands, habe Demos aufgenommen und habe schließlich Tontechnik studiert. Das habe ich dann auch sieben Jahre lang unterrichtet und war sehr glücklich damit.

Welche Musik hat dich in deiner Jugend geprägt, was hast du gehört?

Chris Harms: Die erste Band, von der ich richtig Fan war und meine erste Platte hatte, war Roxette. Ich war zehn und habe von einer Klassenkameradin das Album „Joyride“ geschenkt bekommen, weil sie die nicht mochte. Da bin ich dann hängengeblieben, das war auch mein erstes Konzert, mit meiner ersten Freundin damals. Es war der 24. Oktober 1994, in der Sporthalle Hamburg. Dann kamen noch Bands wie Guns N`Roses und Nirvana dazu. Erst Ende der 90er fing es an, dass mich auch Metal und düstere Themen fasziniert haben. Ich wusste vorher ehrlich gesagt gar nicht, dass es das gibt. Ich habe schon als 14-Jähriger Nagellack und Eyeliner getragen, weil Per Gessle von Roxette das gemacht hat und ich das so cool fand. Genauso wie David Bowie, Kiss usw. Aber mir war gar nicht klar, dass es auch ganze düstere Bereiche gibt. Mich haben immer die dunkleren Songs in Moll fasziniert, aber ich wusste nicht, dass es das als Haupt-Genre gibt. Und da ging es dann los. Da gab es dann auch Parties und Festivals und ich habe festgestellt, es gibt noch mehr Menschen, die so empfinden!

Was war das für dich wichtigste oder beeindruckendste Konzert bisher als Fan?

Chris Harms: Ich glaube, das war 1999 das Konzert von Muse in Hamburg. Da hatten sie gerade ihr erstes Album draußen, waren noch sehr jung und haben vor einer halbvollen Markthalle gespielt. Aber sie haben mit so einer Intensität und Qualität performt, dass ich gewusst habe, diese Band wird in ein paar Jahren Stadien füllen. Es war wirklich eine Erleuchtung, diese Musiker zu sehen.

Du machst ja nicht nur mit Lord Of The Lost Musik, du produzierst auch diverse andere Künstler, aktuell zum Beispiel Nino de Angelo. Außerdem bist du viel auf Social Media unterwegs, mit den unterschiedlichsten Aktionen zum Album. Woher nimmst du die Zeit und Inspiration für das alles?

Chris Harms: Was die Zeit betrifft – man muss einfach mit einem Terminkalender umgehen können. Außerdem habe ich zwei Vorteile: Ich bin effizient in dem, was ich mache. Und ich bin kein Einzelkämpfer. Ich mache alles mit einem großartigen Team, sowohl im Studio als auch in der Band. Das Team findet häufig nicht so die Beachtung, die es verdient, weil man als Sänger meist mehr beachtet wird, was sehr schade ist. Das heißt, viele denken immer, ich würde das alles alleine machen und fragen, woher ich die Zeit nehme. Das ist ja so nicht wahr, ich arbeite eben mit einem großartigen Team. Woher ich meine Inspiration nehme, kann ich nicht genau sagen. Das kommt einfach so. Es ist, als hätte ich ein Radio in meinem Hinterkopf, das immer läuft und Sachen ausspuckt, da muss ich nur hinhören. Ideen, auch Songideen, kommen meist völlig unkontrolliert. Und ich glaube, ich habe auch einfach eine blühende Phantasie.

Chris Harms: "Ich arbeite mit einem großartigen Team zusammen!"
Chris Harms: "Ich arbeite mit einem großartigen Team zusammen!" © VDPictures / Jan Season

Wie sehr vermisst du das Tourleben? Was fehlt dir daran am meisten?

Chris Harms: Am Touren vermisse ich eigentlich gar nichts, denn das heißt ja vor allem warten und reisen. Das, was ich daran mag, ist es, auf der Bühne zu stehen und mit Freunden zusammen zu sein. Aber ich bin nicht reisewütig, ich habe kein Fernweh. Ich bin eher jemand, der auf Tour Heimweh hat. Aber ich vermisse sehr, das zu machen, wofür Musik eigentlich da ist. Das ist für mich nicht, Songs zu schreiben oder im Studio zu sitzen, sondern vor Leuten aufzutreten. Wenn man vor Publikum spielt, passiert etwas in beide Richtungen. Man steht nicht nur auf der Bühne und gibt etwas ab, sondern da kommt auch etwas zurück. Das ist ähnlich wie wenn sich zwei Menschen verlieben, da muss ein Funke überspringen, auf beiden Seiten. Diese Dynamik, diese Gleichschaltung der Gefühle, passiert auch zwischen Publikum und Band. Das ist es, was beide Seiten so glücklich macht. Das fehlt mir sehr.

Steht die verschobene Tour mit Iron Maiden noch?

Chris Harms: Ja, 2022 soll die Tour stattfinden. Ich weiß aber nicht, ob das unsere nächste Tour ist oder ob vorher noch etwas ansteht, denn wir haben ja diverse Sachen verschoben.

Wie seid ihr in der Coronazeit ohne Live-Shows über die Runden gekommen?

Chris Harms: Wir haben unsere Merch-Shop aufgebohrt und verkaufen dort viel mehr als früher. In der aktuellen Zeit sind wir eher Baumwollhändler als Musiker. Aber das hat uns tatsächlich gerettet! Außerdem wird es am 3. Juli einen Livestream geben, der bleibt dann für eine Woche online.

Worauf freust du dich nach Corona am meisten?

Chris Harms: Ich freue mich darauf, mal wieder drinnen in einem Restaurant zu sitzen. Ich sitze nicht gerne draußen im Wind oder in der Sonne. Draußen sein nervt mich manchmal (lacht). Ich bin gerne drin, und darauf habe ich richtig Bock. Mal wieder bei meinem Lieblingschinesen auf dem Kiez zu sitzen und ganz entspannt etwas zu essen zu bestellen. Es sind diese kleinen Dinge, auf die ich mich freue.

Vielen Dank für das Interview!

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